Von der natürlichen, gesunden Angst zur Angststörung - Entstehung und Formen

Voelkner & Radßat GbR • 22. April 2025

In dieser Episode unseres Podcasts beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema Angst. Wir beginnen mit der grundlegenden Frage: Was ist Angst? und erforschen die natürlichen Funktionen dieser Emotion, die uns evolutionär als Schutzmechanismus dienten. Doch was passiert, wenn diese natürliche Reaktion außer Kontrolle gerät und pathologische Formen annimmt? In diesem Blogartikel erhältst du eine Zusammenfassung unserer Podcast-Episode.

Was ist Angst
Die "normale Angst" ist eine biologisch verankerte Warnreaktion bei Gefahr. Diese Warnreaktion aktiviert das sympathische Nervensystem, um eine Kampf- oder Fluchtreaktion zu ermöglichen und somit das Überleben zu sichern. Die Emotion Angst und die dazugehörige Körperreaktion sind dementsprechend normale, sinnvolle und lebensnotwendige Reaktionen. Die "pathologische" bzw. "krankhafte" Angst hingegen ist situationsunangemessen und zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Intensität, Dauer und Häufigkeit aus.

Die Angstreaktion
Durch die Aktivierung des sympathischen Nervensystems und die damit verbundene Ausschüttung von Hormonen wird der Körper in einen Erregungszustand versetzt. Der Grund dafür ist, dass der Körper aktiviert und vorbereitet wird, um kämpfen oder fliehen zu können bzw. die Gefahrensituation zu bewältigen (Cannon, 1929). Dafür müssen dem Körper Energie bereitgestellt und die Muskeln mit Sauerstoff versorgt werden. Dies zeigt sich in Körpersymptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüchen, Zittern, Mundtrockenheit, Atembeschwerden, Brustschmerzen, Magenschmerzen, Hitzewallungen, Kribbeln, Schwindel, Unwirklichkeitsgefühlen und vielem mehr.

Die Angststörung
Bei einer Angststörung werden die wahrgenommenen Körperreaktionen katastrophisiert. Es werden schlimme Folgen ausgemalt (teilweise bis zur Furcht, sterben zu können). Die Situation wird dann verlassen und in Zukunft gemieden (Vermeidungsverhalten). So wird keine korrigierende Erfahrung gemacht und die Angst bleibt bestehen (Clark & Beck, 2010). Hauptmerkmale einer Angststörung, die normale Ängste übersteigen, sind: starke Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen und privaten Bereichen, die das Funktionsniveau und die Alltagsbewältigung erschweren; unangemessene, zu intensive oder zu lang anhaltende Angstsymptome; subjektives Leiden; Abweichungen der Angst von gesellschaftlichen, kulturellen oder religiösen Standards und Regeln; sowie Vermeidungsverhalten. In vielen Fällen nehmen die Patienten ihre Angst sogar als irrational wahr und wissen, dass die gefürchtete Situation objektiv betrachtet nicht so bedrohlich ist, wie sie sie empfinden.

Die Entstehung einer Angststörung
Eine Angststörung entsteht durch das Zusammenkommen von prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedindungen (Barlow, 2002). Prädisponierende bzw. "anfällig machende" Bedingungen können ein leicht reizbares Nervensystem, familiäre Häufung von Angststörunngen (Genetik), belastende Erfahrungen in der Kindheit und eine disfunktionale Erziehung sein (Barlow, 2002). Die Zwei-Faktoren-Theorie (vgl. Kapitel 4.1) erklärt, wie es über die prädisponierenden Bedingungen hinaus durch eine auslösende Bedingung und Vermeidungsverhalten zu einer Angststörung kommt.

Zwei-Faktoren-Theorie
Die Zwei-Faktoren-Theorie erklärt die Entstehung von Angststörungen durch zwei Prozesse. Zuerst wird Angst durch eine schlechte Erfahrung mit einem bestimmten Reiz gelernt, in dem eine negative Erfahrung mit einem Reiz "verknüpft" wird (Mowrer, 1947). Beispielweise könnte der Reiz Fahrstuhlfahren sein und die negative Erfahrung Übelkeit. Die Person würde Fahrstuhlfahren folgend mit Übelkeit verbinden (bzw. "verbinden", "konditionieren") und ggf. Ängste vor dem Fahrstuhlfahren entwickeln. Anschließend wird diese Angst durch "Vermeidung" aufrechterhalten, da die negative Konsequenz ausbleibt und das Vermeidungsverhalten so verstärkt wird (Mowrer, 1947). Die Person meidet Fahrstuhlfahren, wodurch sie zwar kurzfristig weniger Angst hat, aber langfristig lernt, dass ihre Angst berechtigt ist, da sie nie die Erfahrung macht, dass beim Fahrstuhlfahren nicht zwangsweise Überlkeit auftritt. So bleibt die Angst bestehen und kann sogar schlimmer werden.

Schutz vor Angststörungen (Immunisierung und Modelllernen)
Manchmal können in der Kindheit und Jugend gemachte Erfahrungen vor der Entwicklung einer spezifischen Phobie schützen. So zeigen Daten, dass häufiges Klettern in hohen Bäumen vor der Entwicklung einer späteren Phobie schützt bzw. immunisiert (Teismann et al., 2024). Kinder sehen ihre Eltern als Vorbild und gucken sich Verhaltensweisen ab (vgl. Modelllernen; Bandura, 1977). Wenn Eltern ihrem Kind signalisieren, dass Spinnen weder ekelig noch gefährlich sind und dementsprechend bei Konfrontation mit einer Spinne reagieren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich das Kind die Verhaltensweise abguckt und -keine- Spinnenphobie entwickelt.

Die verschiedenen Formen von Angststörungen
Agoraphobie:
Das Kernmerkmal der Agoraphobie besteht in der Angst vor dem Auftreten körperlicher Veränderungen und einem damit verbundenen Kontrollverlust, in dem eine Flucht nicht möglich ist (Teismann et al., 2024).
Lebenszeitprävalenz: 2,5-4% (Teismann et al., 2024)

Panikstörung:
Das Kernmerkmal der Panikstörung sind wiederholte, plötzlich und unerwartet auftretende Panikattacken, die sich durch ein schnelles und unkontrollierbares Auftreten eines starken Angstgefühls und körperlicher Symptome kennzeichnen (Teismann et al., 2024).
Lebenszeitprävalenz: 1,6-5,2% (Teismann et al., 2024)

soziale Phobie:
Das Kernmerkmal der sozialen Phobie ist die intensive Angst, in sozialen Situationen peinlich oder ungeschickt zu erscheinen und aufgrund dessen von anderen Personen negativ bewertet zu werden (Teismann et al., 2024).
Lebenszeitprävalenz: 7-12% (Teismann et al., 2024).

spezifische Phobie:
Das Kernmerkmal der spezifischen Phobie besteht in einer starken Furcht vor spezifischen Orten, Tieren, Objekten oder Ereignissen (Teismann et al., 2024).
Lebenszeitprävalenz (in Europa und USA): 9,4-12,5% (Teismann et al., 2024)

generalisierte Angststörung (GAS):
Charakteristisch für die GAS ist chronisch, anhaltende Angst und Nervosität begleitet durch körperliche Symptome wie Muskelverspannungen. Im Vordergrund der GAS stehen permanente, exzessive Sorgen (Teismann et al., 2024).
Lebenszeitprävalenz: 3,7% (Teismann et al., 2024)

Literatur
Bandura, A. (1977). Social learning theory. Prentice-Hall.
Barlow, D. H. (2002). Anxiety and its disorders: The nature and treatment of anxiety and panic (2nd ed.). Guilford Press.
Cannon, W. B. (1929). Bodily changes in pain, hunger, fear and rage: An account of recent researches into the function of emotional excitement. Appleton-Century.
Clark, D. M., & Beck, A. T. (2010). Cognitive therapy of anxiety disorders: Science and practice. Guilford Press.
Mowrer, O. H. (1947). On the dual nature of learning: A re-interpretation of "conditioning" and "problem-solving". Harvard Educational Review, 17(2), 102-148.
Teismann, T., Thoma, P., Taubner, S., Wannemüller, A., & von Sydow, K. (Eds.). (2024). Klinische Psychologie und Psychotherapie: Ein verfahrensübergreifendes Lehr-und Lernbuch. Hogrefe Verlag GmbH & Company KG.

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